
Ein Ruck geht durch die Arbeitswelt. Die „New Work“-Bewegung verspricht mehr Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe am Unternehmen. Doch wie sieht das konkret aus?
Bunte Büros, Tischkicker und das Bällebad bei Google: Wacker halten sich die Klischees der modernen, innovativen Arbeitswelt. Doch hinter der Idee von „New Work“ steckt weit mehr. Im Kern lautet sie: Arbeitsbedingungen sollen sich den Bedürfnissen der Mitarbeiter anpassen, nicht umgekehrt. Das Konzept der „New Work“ erstreckt sich weit über die dynamische Gestaltung von Arbeitsräumen und -zeiten hinaus und betrifft auch die Work-Life-Balance und Hierarchien, Ernährung und Bewegung, und reicht sogar bis hin zur großen Selbstfindung. Doch was ist tatsächlich realistisch und sinnvoll, was ist nur leeres Heilsversprechen?
Um den Unterschied zu verstehen, muss man dorthin gehen, wo Unternehmen nur mit guten Ideen weiterkommen: zum bundesweit größten Start-up-Campus „Factory Berlin“. Hier ist „New Work“ nicht nur ein Modewort, sondern wird schon seit Jahren gelebt. Auf dem 14.000 Quadratmeter großen Areal arbeiten Konzerne wie Daimler mit Tech-Firmen wie SoundCloud und Uber zusammen, fördern junge Newcomer oder gründen gleich eigene Start-ups. Hier ließ sich 2017 auch das Innovation Lab der ERGO Group nieder.
Wer die Büroräume des Labs von Birger Venn-Hein und seinem Team betritt, denkt zuerst wohl eher nicht an einen großen traditionellen Versicherungskonzern. Gleich vorn in der Lobby steht eine Couch mit einer Playstation, in der Küche ein gut gefüllter Kühlschrank. Glaswände trennen größere Bereiche von ruhigen Rückzugsorten. Post-its mit To-dos und Ideen bedecken die Boards im Hauptraum. „Es ist uns egal, wann und wo du arbeitest. Es kommt uns nur auf deine Leistung an“, erklärt der Leiter des Labs. Sieben Festangestellte und bis zu 30 projektbezogene Freelancer testen und entwickeln nach diesem Prinzip neue Produkte für die Versicherung der Zukunft.
Die Teams wollen unter anderem herausfinden, wie sich ERGO künstliche Intelligenz, Elektromobilität und das „Internet der Dinge“ zunutze machen kann. Zum Portfolio zählt eine Smartwatch-App, die erkennt und Hilfe holt, wenn ein Versicherter stürzt. Bei der Sturzerkennung testet das Lab auch Radargeräte, die an Wand oder Decke installiert werden können. „Außerdem kombinieren wir Smart-Home-Systeme wie Radargeräte, Wassersensoren und Einbruchmeldesysteme mit Assistant Services und einem Schutzbrief“, erklärt Venn-Hein. Kunden können jetzt über ihren „Amazon Echo“ eine Auslandskrankenversicherung abschließen und ihr Risikowissen testen. „Alexa hilft ihnen jetzt auch dabei, mit dem Rauchen aufzuhören“, so der Leiter. Lösungen für diese technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen stemmt ein Konzern wie ERGO nicht nebenbei – daher das agil arbeitende Lab in Berlin-Mitte.
Flexible Lösungen erfordern flexibles Arbeiten: Netzwerke statt Hierarchien, flache Führungen, Hot Desking statt starrer Arbeitsplätze. „Das hat auch mit dem Ringen um Talente zu tun – und die wollen von Firmen etwas geboten bekommen“, erklärt Venn-Hein. Der Leiter des Innovation Lab ist Quereinsteiger: Zuvor arbeitete der promovierte Medienwissenschaftler als TV- und Filmregisseur, später half er mit, die Axel-Springer-Tageszeitung „Die Welt“ zur Digitalmarke aufzubauen. Seit vergangenem Jahr führt er Regie im Innovation Lab von ERGO. Vorrangig müssen seine Leute kommunikativ sein. Sein Team bündelt verschiedenste Expertisen – niemand hier hat einen Versicherungshintergrund: Betriebswissenschaftler, Innovationsexperten, Marktforscher, IT-Spezialisten. Einige von ihnen haben selbst gegründet oder lange als Freelancer gearbeitet. Charaktere, die Freiheit gewohnt sind. Das Fachwissen steuern die Kollegen aus den Fachabteilungen bei, die bei jedem Projekt von Anfang bis Ende involviert sind.
Das „Neue Arbeiten“ wurde bereits vor Jahrzehnten ausgerufen: Die Bewegung geht zurück auf den österreichisch-US-amerikanischen Philosophen Frithjof Bergmann. Mitte der 1980er-Jahre bereits entwickelte er sein Konzept der freiheitlichen Arbeit, das bald vor allem von den neuen Tech-Giganten aufgegriffen und ins digitale und globale Zeitalter übertragen wurde. „Maßgeblich förderte die IT-Kultur die Bewegung. Nach dem Motto: Wenn wir schon disruptive Ideen umsetzen, reformieren wir die Arbeit gleich mit“, so Venn-Hein, der auch bei ERGO beobachtet, dass die IT-Abteilungen sich schneller an neue Bedingungen anpassen. „Weil sie es durch die rasanten Entwicklungen schon immer mussten.“
Venn-Hein und sein Team bekommen oft Besuch von ERGO: „Abteilungen lassen sich von unserer Arbeitsweise inspirieren. Wir haben da auch einen Kulturauftrag.“ Die Kollegen können sich dann ansehen, wie das Lab Projekte angeht. Wichtig sei es, Vertrauen, Budgets und Autorität zu verteilen, um die Teams mit acht bis zehn Leuten handlungsfähig zu machen. „Ich kann doch nicht hoch qualifizierte Experten holen und dann die Entscheidungen über das beste Vorgehen selbst treffen, nur weil ich Chef bin“, so Venn-Hein. Feste Arbeitszeiten? Gibt es nicht, nur Termine wie die tägliche Absprache und den Ideenaustausch alle zwei Wochen.
Venn-Hein ist nur wichtig, dass Ziele umgesetzt werden, für das „Wie“ erhalten seine Leute möglichst viel Spielraum. Ein Beispiel: digitale Nomaden. Die klassische Auslandsversicherung deckt nur sechs Wochen ab und passt nicht zum digitalen Lifestyle der „Nomaden“. „Deswegen lassen wir vier ,Nomaden‘ ein neues Produkt entwickeln – einer sitzt in Santiago de Chile, einer auf der kroatischen Insel Krk, einer im slowenischen Ljubljana, einer im spanischen Málaga.“ Die Absprache läuft über Skype und andere Collaboration Tools. So schafft das Lab Lösungen für die moderne Arbeitswelt, indem es ihre Vorteile nutzt.
Zum Homeoffice hat Venn-Hein eine klare Meinung, die vielen „New Work“-Maximen widerspricht: „Kann man gerne mal machen. Wichtig ist aber die Arbeit im Team, das persönliche Miteinander.“ Und dafür müsse man – logisch – einander eben sehen. Daher sei auch die Küche wichtig, die von vielen Unternehmen vernachlässigt werde: Hier kommen Menschen ungezwungen zusammen. Gerade räumliche Fragen werden im Lab häufig diskutiert: Ab wann ist ein Raum zu groß, wann schaffe ich Eigenbrötler? Wozu braucht der Chef noch ein Einzelbüro? Und wenn man schon bei Autoritätsfragen ist: Flache Hierarchien lassen sich mit einem weniger strengen Dresscode unterstreichen. „Da müssen Führungskräfte einen lockeren Umgang vorleben. Auch ich – obwohl ich gern Anzug trage“, so Venn-Hein.
Und das ganz große Versprechen von „New Work“: die persönliche Erfüllung im Job? Sieht der Chef ebenfalls kritisch: „Klar, ein großartiges und erstrebenswertes Ziel. Es kann aber auch eine große Bürde sein, die zu Unzufriedenheit führt.“ Es sei in Ordnung, seinen Job nur zu machen, um Geld zu verdienen. Dennoch sei eine gute Antwort nicht zu unterschätzen, wenn man sich morgens frage: Wofür stehe ich auf? Das Streben nach Sinn, der Bedeutung des eigenen Tuns sei gerade für Versicherungen eine große Chance. Schließlich baut deren Konzept auf Solidarität. Venn-Hein: „Versicherungen verteilen Verantwortung auf viele Schultern, damit der Einzelne durch einen Schadensfall nicht in Not gerät – das hat doch was.“